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Drehbücher im Kopf

Handeln unter Druck: Die ersten Berufsjahre sind für Lehrer oftmals entscheidend

Welche Quellen verwende ich, welche Übungen, wie baue ich die Stunde auf? Das Problem kennt fast jeder Anfänger: „Auf eine Unterrichtsstunde könnte ich mich im Moment noch tagelang vorbereiten“, sagt Manuela Räder, Studentin an der Uni Würzburg im siebten Semester für das Lehramt an Gymnasien in den Fächern Deutsch, Geschichte und Sozialkunde. So viele Entscheidungen gilt es zu treffen, die über Erfolg und Misserfolg im Unterricht entscheiden. Viele Fragen werden dabei erst im Klassenzimmer beantwortet, zum Beispiel: Wie werden die Schüler auf den Unterricht reagieren? Erreiche ich die Lernziele mit diesem Unterrichtskonzept?

Während ihres Studiums hat Räder bereits drei Praktika in verschiedenen Schulen absolviert, dabei insgesamt zehn Unterrichtsstunden gehalten und erste Erfahrungen gesammelt, etwa welche Probleme Sechstklässler bei der mündlichen Wiedergabe historischer Textquellen haben können oder was ein gutes Tafelbild ausmacht. Sie hat ein Gefühl dafür entwickelt, wie lange eine Unterrichtsstunde wirklich dauert (nämlich niemals wirklich 45 Minuten, da meistens Organisatorisches oder Unvorhergesehenes anfällt) und dass 31 Schüler in einer Klasse ganz schön viel sind, wenn man jeden einmal aufrufen und auf ihn eingehen will. „Ich fühle mich gut vorbereitet auf das, was auf mich zukommt“, sagt Räder, die neben dem Studium in der Kirche und bei der Wasserwacht mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. Was es aber bedeutet, ein Jahr lang selbstständig Unterricht zu halten, das kann sie weder an der Uni noch während der Praxisphasen des Studiums lernen. „Ich freue mich auf die Schule und die Arbeit mit den Kindern, aber ein bisschen Bauchschmerzen bekomme ich schon, wenn ich daran denke, wie viele Stunden ich am Anfang vorbereiten muss“, sagt Räder.

Der berühmte „Praxisschock“, unter dem viele angehenden Lehrer leiden, scheint also trotz Praxistraining unvermeidlich zu sein. „Berufsanfänger haben zunächst einmal ein Überlebensproblem“, sagt Gabriele Bellenberg, Professorin für Schulforschung und Schulpädagogik und Direktorin des Instituts für Erziehungswissenschaften an der Ruhr-Uni Bochum: die Ansprüche an sie steigen am Anfang schließlich extrem schnell an. Feilen Referendare zusammen mit Seminarlehrern während des Vorbereitungsdienstes vor allem noch an der Qualität des Unterrichts, so müssen Anfänger in den ersten Berufsjahren 25 Stunden in der Woche halten – ohne dabei auf fertige Unterrichtskonzepte und -reihen zurückgreifen zu können, dabei Rollen einnehmen, die sie an der Uni nicht gelernt haben (etwa im Umgang mit den Eltern), und mit konkreten Unterrichtssituationen selbstständig fertig werden, mit denen sie während der Praktika noch nicht konfrontiert wurden: „Anfänger handeln unter einem Druck, der sich aus der Gleichzeitigkeit der unterschiedlichsten Ansprüche, die von Schülern, Eltern und Kollegen an sie gerichtet werden, ergibt“, erklärt Bellenberg.

Die ersten Berufsjahre sind für angehende Lehrer daher entscheidend. In den ersten drei bis fünf Jahren nach Berufseintritt bildet sich der „eigentliche Lehrer“ heraus, so lautet ein zentrales Ergebnis der Lehrerforschung. Dass es Zeit und Erfahrung braucht, bis sich Lehrer in ihren verschiedenen Rollen als Fachmann, Klassenmanager oder Pädagogen zurechtfinden, legen auch Studien aus der sogenannten Expertiseforschung nahe, die den Unterschied zwischen Anfängern und erfahrenen Lehrern untersuchen.

So schätzt ein Berufsanfänger eine Situation im Unterricht ganz anders ein als ein erfahrener Lehrer. Achtet Ersterer vor allem noch auf Details, zum Beispiel auf die Haarfarbe von Schülern oder die Sitzordnung, so greift ein erfahrener Lehrer auf komplexere und abstraktere Analyseeinheiten zurück. „Erfahrene Lehrer haben eine bestimmte Vorstellung im Kopf, wie eine Schulstunde abzulaufen hat“, erklärt Bellenberg, „sie wissen genau, in welcher Phase der Unterricht sich gerade befindet und was als nächstes kommt“.  Die Forschung spricht in diesem Zusammenhang von „Drehbüchern“ beziehungsweise „Curriculum Scripts“ in den Köpfen, die Lehrer  nach einigen Berufsjahren internalisiert haben. Anfänger haben diese Skripts noch nicht, daher können sie auch weniger flexibel im Unterricht reagieren und weniger Ziele im Unterricht verfolgen als die Routiniers. Wird ein Anfänger durch das Zu-Spät-Kommen eines Schülers noch aus dem Konzept gebracht, nutzt ein erfahrener Lehrer die Störung um seine Ziele im Unterricht weiter zu verfolgen. Nicht verwunderlich ist es da, dass gerade das „Multitasking“ zu den größten Problemen von Anfängern gehört, zum Beispiel sich gleichzeitig mit den Schülern auszutauschen und den Overheadprojektor zu bedienen,  gleichzeitig an die Tafel zu schreiben und die Klasse im Blick zu haben („die Augen im Hinterkopf haben“) oder sich gleichzeitig mit einem Schüler intensiv auseinanderzusetzen und die anderen Schüler bei Laune zu halten.

Praxisorientierung steht daher seit mehreren Jahren wieder verstärkt im Mittelpunkt der Diskussionen um die Lehrerausbildung. Mit der Strukturreform des Studiums haben die meisten Bundesländer Fachstudium und Praxisphasen enger miteinander verzahnt. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise sollen Studenten vom Wintersemester 2013/14 an ein ganzes Praxissemester absolvieren. In Hamburg wiederum werden angehende Lehrer in der sogenannten Berufseingangsphase von erfahrenen Lehrern besonders betreut.

Denn damit Anfänger Expertise überhaupt aufbauen können, sind vor allem Reflexion und Begleitung wichtig, betont Bellenberg:  „Die Frage nach dem Praxistraining für angehende Lehrer lässt sich nicht quantitativ beantworten, sondern ist vor allem eine Frage der Qualität. Praxistraining nützt nur dann, wenn es gut vorbereitet und begleitet wird. Die Schulentwicklungsforschung hat gezeigt, dass überall da, wo Lehrer sich gegenseitig begleiten, die Professionalität am stärksten gefördert wird.“